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Uns liest man nicht einfach die Leviten!

Dem einem oder der anderen wurden sicherlich schon einmal die Leviten gelesen. Das ist für die Betroffenen bestimmt nicht schön.
Aktuell sollte man den Verantwortlichen für die Kriege auf der Erde, auch denen in Osteuropa und Nahost die Leviten lesen, oder vielleicht noch besser: Sie sollten die Leviten lesen. Warum das so ist, schreibt Elenore Reuter in ihrem Beitrag über die Herkunft und Bedeutung dieser Redewendung:

 

Uns liest man nicht einfach die Leviten!

Wann hat jemand Ihnen zuletzt die Leviten gelesen? Ich hoffe, es ist schon lange her. Denn wenn mir jemand die Leviten liest, ist das eine sehr unangenehme Situation. Jemandem die Leviten lesen bedeutet, sein Verhalten zu tadeln und ihn streng zurechtweisen. Selbst wenn die Kritik berechtigt ist, geht es doch auch freundlicher.
Forscht man nach dem Ursprung der Redewendung, kommt die Bibel ins Spiel. Das dritte Buch der Bibel ist das Buch Levitikus. Seinen Namen hat es, weil der größte Teil dieses Textes sich an Priester und Leviten richtet. Was Priester sind, verstehen wir, aber Leviten?
Leviten sind Menschen, die zum Stamm Levi, einem der zwölf Stämme Israels, gehören. Im Unterschied zu den anderen Stämmen hatten die Leviten kein eigenes Land, sondern lebten auf den Gebieten der anderen Stämme und waren für den Kult und die Heiligtümer zuständig.
Logischerweise stehen also im Buch Levitikus Regeln für die korrekte Durchführung von Gottesdiensten. Da steht zum Beispiel, dass die Priester im Dienst ordentlich frisiert sein sollen und nicht betrunken sein dürfen. (Lev 10,6.8) Welche Opfer müssen wann, wie und von wem dargebracht werden? Welche Opfergaben sind geeignet, welche ungeeignet? (z.B. Lev 7) Welche Regeln gelten, damit die Menschen durch den Kult wirklich in Kontakt zu Gott treten können? Und das alles Vers um Vers und Seite um Seite. Vieles davon kommt uns heute sehr fremd und auch wenig relevant vor.
Dabei gibt es aber auch Regeln zum Umgang mit Menschen, die an einer Infektion leiden und andere anstecken könnten. Im Kern heißt es, dass sie isoliert werden müssen. Logisch: das haben wir schließlich in Corona-Zeiten auch so gemacht.

Im Buch Levitikus haben wir also, ganz wie sonst in der Bibel auch, eine Mischung aus zeitlos relevanten Texten und hoffnungslos überholten.
Eines ist aber am Buch Levitikus besonders interessant: Der erste Teil des Alten Testaments, der sogenannte Pentateuch, besteht aus fünf Büchern. Diese fünf Bücher haben ein ganz besonderes Gewicht, ähnlich wie im Neuen Testament die Evangelien. Als drittes Buch steht davon Levitikus genau in der Mitte. Die Mitte des Buches Levitikus ist das Kapitel 19. Darin geht es um zwischenmenschliches Miteinander. Auch hier gibt es wieder Gesetze, die uns heute ziemlich schräg vorkommen. Aber der zentrale Satz dieses zentralen Kapitels lautet:
„Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.“ (Lev 19,19) Diese Grundregel hat nicht Jesus erfunden; die hat er in seiner Heiligen Schrift gelernt. Und im Vers davor heißt es: „Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen.“ Das heißt, das Gebot der Nächstenliebe steht im Zusammenhang mit „Brüdern“ (womöglich auch Schwestern!), die man hassen könnte. Man könnte es also so interpretieren: „Liebe deine Feinde!“ Auch die Forderung der Feindesliebe ist also keine Neuerfindung Jesu. Aber sie ist natürlich immer noch aktuell, so, wie zur Zeit des Alten Testaments und zur Zeit Jesu.
Zumindest diese Leviten könnte man also auch heute noch mit Gewinn lesen. Schade, dass das Buch für eine so abwertende Redewendung herhalten muss.

Text: Eleonore Reuter
Foto: Wolfgang Lagemann

Prof.in Dr. Eleonore Reuter war bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand 2022 Professorin an der Katholischen Hochschule Mainz. Nach dem Studium der Theologie an der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn promovierte sie 1992 und war von 2008 Professorin an der Katholischen Hochschule in Mainz. Seit 1997 / 98 wohnt und lebt sie in Icker.